Literaturhaus Leipzig, 10.9.2013 Angela Krauß_______________________________________________________________________ Kennen
Sie Brasilien ? Ich
nicht. Es
muß ein feuerwerksgroßer Strauß feuerroter Lilien sein, dieses Brasilien. Eine immerwährende Monsterwelle voller berauschter, vollkommen aus dieser Welt fliegender Surfer. Karneval, Fußball, Slums, Strände, Fußball, nackte Haut, Korruption, Tanz, Fußball, Franziskus - eine Riesenschaumkrone über diesem Brasilien …Sie
befinden sich hier in einer Bilderausstellung. Fotografien von Brasilianern und
Brasilianerinnen. Man kann ihnen schwer ausweichen. Oder ? Der
Fotograf heißt FRANK GAUDLITZ. Ich habe ein beeindruckendes Freiluftwerk von ihm gesehen. Auf
dem Bornstedter Feld bei Potsdam, wo preußische Truppen, kaiserliche, dann
Soldaten der Reichswehr , der Wehrmacht, dann der Roten Armee, dann der NVA
ihre militärischen Übungen absolvierten, auf diesen Boden, in diese Landschaft
stellte der Fotograf überlebensgroße Fotoskulpturen, Bildnisse jener, die dort
durch die Zeiten im sogenannten Kriegshandwerk abgerichtet wurden. Diese
Rekruten auf dem Bornstedter Feld tragen ihre Uniformen mit Ernst - sie
verleihen den einen Schutz und Deckung, die Verlorenheit, die aus anderen
spricht, scheint diese ganz schutzlos zu machen - aber auch das beraubt sie nicht ihrer Würde.
Welch ein Wort heute ! Fotografierte
Personen tragen ja heute immer seltener Würde zur Schau. Woher
sollen sie sie auch holen ? Sie fühlen sie auch im Leben nicht. In
einem Leben, wo das öffentliche Zurschaustellen neuerdings vor gar nichts
haltmacht. Die Entblößung alles bislang Intimen feiert sich gerade in einem
beispiellosen Entblößungsrausch, in einer verwirrten Selbstdarstellungswut
deklariert sich nun auch weibliche Nacktheit zum öffentlichen Protestplakat. Die
Würde ist gerade im Begriff, uns abhanden zu kommen. Zu
einem Zeitpunkt unserer rasanten Entwicklung, da es keiner mehr merkt. Als
würde sie schon nicht mehr erkannt. Auf alten Fotografien schaut sie uns oft
entgegen. Wie ein Wesen einer bedrohten Art, das stillsteht und uns anschaut. In
einer anderen beeindruckenden Serie von Frank Gaudlitz, über den Abzug der
Sowjetarmee, ist das Statische plötzlich
in Bewegung geraten, Unschärfe herrscht vor. Was jene Fotos an Auflösung,
Flucht, Abbruch und Aufbruch, Zerfall von Struktur festhalten, hält nicht einmal die
Bildbegrenzung fest, das ist die Kunst des Fotografen. Es sprengt immerzu den
Bildrahmen. Im Werk des Fotografen – versäumen Sie auf keinen Fall, sich dieses
Werk in großen Bildbänden anzuschauen - fällt dies wiederum aus dem Rahmen.
Gleichsam als der Moment der Aufwühlung in der Geschichte : die Form wird
zerstört und sucht eine neue Form. Dieser
Rhythmus eines jeden lebendigen Organismus von Zerfall, Umbau und Erneuerung
betrifft Gesellschaften wie Individuen. Diese Erfahrung teilen wir alle. Nun erleben wir sie gerade erneut, wenn auch
aus (vermeintlich) sicherer Entfernung: die Rahmensprengung, es ist geradezu
ein Anschauungsunterricht. Es
gilt immerzu Zerfall und Erneuerung in allen Wirklichkeitssphären zu bestehen –
man könnte es auch einfach die rastlose Vielfalt dessen was ist nennen – zu durchschauen ist sie nicht, war
sie nie und wird sie nie sein. Je weniger das Ganze zu erkennen ist, um so stärker das Bedürfnis, sich seiner selbst sicher zu sein, sich seiner selbst zu versichern ist für jeden Menschen überlebensnotwendig. WER BIN ICH – DAS BIN ICH Das zu ergründen und darzustellen, hat offenbar eine geheimnisvolle Funktion und entfaltet eine geheimnisvolle Wirkung in uns. In einem jeden von uns. Diesem
magischen Frage-Antwort-Paar folgt FRANK GAUDLITZ. In
einer weiteren Serie WARTEN AUF EUROPA, Begegnungen an der Donau, hat er es
bestechend kompromißlos zum Gestaltungsprinzip gemacht. Offenbar
ist es überall auf der Welt möglich, in einem Menschen dieses WER BIN ICH – DAS BIN ICH aufzurufen. Unter dem schiefen Rahmen seiner Wohnungstür, auf freiem Feld, vor Bett und Tisch, in seiner Armut, vor den bescheidenen Symbolen seines Anspruchs. Diese
Bildnisse erinnern an Gemälde. Wie doch alles leuchtet, denkt man erstaunt, die abgetragenen Latschen, die verdreckte Straße, dieser abgearbeitete Mensch. Und
immer wird etwas heraufgerufen aus seinem Inneren: seine Würde. Liegt
es am Stillstehen ? Liegt
es an der Aufmerksamkeit, die sich gebündelt auf ihn richtet ? Beides widerfährt dem Menschen nicht häufig. Kann
der Mensch seiner Würde gewahr werden, indem er gesehen wird ? Gesehen werden – es ist das
Gegenteil dessen, was in unserem von Bildmedien bestimmten Leben geschieht. Die
unübersehbare Sucht, sich auf Smartphones zu
betrachten, selbst während des Gehens über Verkehrskreuzungen, inmitten
Menschenmengen das eigene Abbild zu suchen – kann das etwas anderes sein, als
ein tiefes Bedürfnis, gesehen zu
werden ? Wie altmodisch, ist man versucht zu denken, nimmt sich darin, inmitten unserer Alltagsstromschnellen, eine Porträtfotografie aus. Eine solche Porträtfotografie, wie Sie sie jetzt hier sehen. Wie ein Monument des Innehaltens, das mitten im Strom steht. Man kollidiert geradezu - im Blick eines fremden Menschen von einem fremden Kontinent. Die Kollision ist verstörend. Hier
ist mehr Fremdheit, mehr Herausforderung als die eines noch nicht
bereisten Landes. Sie trifft pfeilgenau
eine sorgsam geschützte innere Gegend der eigenen Identität. WER BIST DU ? DAS BIN ICH !Die
Amazonen des Amazonas, heißen sie. Nach jenen stolzen, mutigen Kriegerinnen,
Anführerinnen, die in männlicher Gebärde fochten, die Insignien ihrer
Weiblichkeit wild entschlossen ignorierten.
Ganz
anders diese hier. Sie haben die Waffen der Frau angelegt. Und tragen ihr Gewand. So erklären sie sich uns : DAS BIN ICH. Sie sind Widerspruch gewöhnt. In diesem Sinne mögen sie Kriegerinnen sein. Vielmehr
aber große Blüten an diesem Feuerwerkstrauß feuerroter Lilien, der Brasilien
für mich ist. Ich
weiß, während ich hier schaue, gerade nichts mehr von Männern und Frauen. Etwas
in mir erinnert sich hier dunkel an das überraschende Erleben in der frühen
Jugend, als noch alles in einem auf der Suche war. Jene
kurze Zeit der Erweckung vor dem Erwachsenwerden, als ich in jedem Mann die Frau
und in jeder Frau den Mann sehen konnte, entzückt und sehnsüchtig. Welche
Befreiung ! Wenn Sie jetzt einmal wenig denken und wirklich sehen, wird sie Ihnen hier vielleicht geschenkt. |